Das Projekt

Biblische Spuren in der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 werden identifiziert und in einer Internet-Datenbank erfasst. Die Darstellung auf dem Bildschirm erhellt das vielfältige Wechselspiel von Bibel und Lyrik für Forschung und Lehre.

In theologischer Perspektive ist die Datenbank ein Hilfsmittel zur Erforschung einer bestimmten Wirkungsgeschichte der Bibel. In germanistischer Perspektive leistet der Hinweis auf biblische Spuren einen wichtigen Beitrag zur Interpretation literarischer Texte.

Insgesamt eröffnet die Datenbank einen viel versprechenden Umgang mit den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel. Intertextualität, Ästhetik und jüdische Texthermeneutik sind Stichworte eines möglichen Theorierahmens für "eine andere art der Auslegung" (T. Gojny).

Die Identifizierung biblischer Spuren erfolgt nach Einschätzung des Lyrik-Teams. Wir geben grundsätzlich eher mehr Referenzen an als zu wenig. Was im konkreten Fall als biblische Spur zu gelten hat, entscheidet, wer mit unserem Datenbestand arbeitet.

Ziele des Projekts

Nur wenige literarische Werke wurden - und werden! - in der deutschsprachigen Literatur so intensiv rezipiert wie die Bibel. In allen Gattungen und in allen Epochen nehmen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren Texten auf biblische Geschichten, Personen oder Motive Bezug. Auch in der Gegenwart ist diese Wirkkraft der Bibel auf die Literatur ungebrochen.

In der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 suchen wir in diesem Sinne nach biblischen Spuren und erfassen diese in einer Datenbank.

Ziel des Projekts ist es, sowohl Zugänge von der Bibel zur Lyrik, als auch von der Lyrik zur Bibel zu ermöglichen. Die Datenbank bietet daher die Möglichkeit, nach Bibelstellen, biblischen Motiven und Figuren, Autorinnen und Autoren sowie Gedichttiteln zu suchen.

Die bereitgestellten Daten sind in verschiedenen Hinsichten von Interesse:

Wechselspiel von Bibel und Lyrik untersuchen (Intertextualität)

Biblische Spuren in moderner Lyrik können als intertextuelle Phänomene verstanden werden: Der "manifeste Text", das Gedicht, verweist auf den "Prätext", die Bibel.

Hinsichtlich der Form der intertextuellen Bezugnahme kann unterschieden werden zwischen Verfahren, die eher an der semantischen Ebene orientiert sind, wie z.B. die Anspielung und Verfahren, die primär auf der Textoberfläche angesiedelt sind, wie das Zitat. Aber auch die Frage danach, ob lediglich auf Einzelelemente verwiesen wird oder aber ob das ganze Gedicht auf der strukturellen Hintergrundfolie eines biblischen Prätextes gestaltet wurde, bietet die Möglichkeit zur Differenzierung.

Die intertextuellen Bezugnahmen auf die Bibel können die unterschiedlichsten Funktionen haben. Grundsätzlich geht es aber fast immer um den Aspekt der Sinnerweiterung bzw. -komplexion. In diesem Kontext erweist sich die religiöse Dimension des Bibelbezugs als konstitutiv. Mit der Bibel verbinden sich auch dann noch Konnotationen wie Verbindlichkeit und Transzendenz, wenn diesen kein persönlicher Glaube mehr entspricht.

Durch die Text-Text-Beziehung wird nicht nur das Sinnpotential des lyrischen Textes angereichert, sondern auch das des biblischen Referenztextes. Hermeneutisch besonders interessant wird es dann, wenn ein Gedicht nicht nur auf ein biblisches Textelement verweist, sondern auf eine Vielzahl unterschiedlicher Bibeltexte. Durch die Aufnahme in neue Textzusammenhänge werden diese neu korreliert und dadurch in einen spannungsreichen Interpretationszusammenhang gebracht.

Biblische Bezüge zur Interpretation von Gedichten bereitstellen

Literatur auf jüdisch-christlichem Hintergrund kann oft nur verstanden werden, wenn intertextuelle Bezugnahmen auf das "Buch der Bücher" vom Rezipienten identifiziert werden. Die Datenbank ermöglicht auch Lesern ohne ausgeprägten Bibelkenntnissen, die intertextuellen Bezüge zur Bibel für das Verstehen der Texte fruchtbar zu machen.

Von besonderer Bedeutung ist dies vor allem bei Verweisen auf die Bibel, die den biblischen Prätext nicht wörtlich zitieren, sondern ihn in modifizierter Weise aufnehmen bzw. inhaltlich auf diesen anspielen: Mit einer Bibelkonkordanz können diese biblischen Spuren nicht gefunden werden.

Darüber hinaus bietet die Datenbank die Möglichkeit, die Aufnahme eines einzelnen biblischen Motivs, einer einzelnen biblischen Erzählung etc. in unterschiedlichen Gedichten in den Blick zu nehmen. Dadurch kann in besonderer Weise das Spezifische des intertextuellen Bezugs im analysierten Text erfasst werden. Von Interesse ist dies nicht nur im Hinblick auf die Gedichte unterschiedlicher Autoren, sondern auch im Hinblick auf das Lyrikwerk eines Autors oder einer Autorin.

Gedichte als autonome Zugänge zur Bibel theologisch ernstnehmen

Nicht jeder literarische Text, der sich auf die Bibel bezieht, ist deshalb auch religiös. Dies gilt es zunächst mit aller Bestimmtheit festzuhalten. Dennoch sind Gedichte mit biblischen Spuren als autonome Zugänge zur Bibel aus theologischer Perspektive religiös relevant.

Biblische Spuren in modernen Gedichten können als externe Wirkungsgeschichte der Bibel außerhalb des Binnenraums der Kirche verstanden werden. Auch wenn die literarischen Texte nur in den seltensten Fällen eine Auslegung der aufgenommenen biblischen Texte intendieren, können sie doch einen Beitrag zur Schriftauslegung leisten.

Durch die Aufnahme eines biblischen Prätextes in ein Gedicht kann dieser kritisiert, verfremdet, umgedeutet oder aktualisiert werden. Immer wieder werden im Rahmen einer solchen Textbegegnung, die sich weder an dogmatische Inhalte noch an die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung gebunden weiß, festgefahrene Rezeptionsmuster durchbrochen und neue Bedeutungspotentiale des biblischen Textes entdeckt.

Weit entfernt von einer Exegese, die auf Erhellung des "eigentlichen" Sinnes biblischer Texte zielt, eröffnen biblische Spuren in moderner Lyrik neue Blickrichtungen auf den Bibeltext. In Anlehnung an rabbinische Schriftauslegung können Gedichte, die sich auf die Bibel beziehen, als "eine andere art der Auslegung" verstanden werden.

Religiöse Rede durch Lyrik inspirieren lassen

Das theologische Interesse an Lyrik mit biblischen Spuren richtet sich nicht allein auf die Aufnahme und Umdeutung biblischer Gegenstände und Inhalte durch die Dichtung. Es kann nicht von der formalen und stilistischen Gestaltung der literarischen Werke absehen.

Vielmehr bietet gerade das Wahrnehmen der spezifischen Eigenart lyrischen Sprechens die Chance, eigene theologische Sprachbemühungen inspirieren zu lassen. Das Eintauchen in die Sprach- und Bilderwelt der Lyrik läßt den Leser nicht unberührt. Wenn es glückt, kann die Sprache der Dichtung seine Sprache verwandeln - nicht so, daß er nun selber zum Dichter würde, aber doch so, daß er lernt, poetisch von Gott und der Welt zu sprechen.

Einige Aspekte dessen, was das Sprechen von Gott, z.B. in einer Predigt, von der Dichtung lernen kann, seien angedeutet:

Zu verweisen ist hier auf die Fähigkeit der sprachlichen Konzentration und Verdichtung der Aussage sowie auf die Sprachgenauigkeit und Prägnanz im Hinblick auf die Metaphorik.

Auch Behutsamkeit und Sprechen an der Grenze zum Schweigen sind Fähigkeiten, die durch die Auseinandersetzung mit der Lyrik geschult werden können.

Daneben und darüber hinaus kann in der Dichtung eine Sprache gefunden werden, die poetisch im engen Sinne des Wortes ist, eine Sprache, die die Kraft hat, etwas neu zu machen und das "Eis der Seele zu spalten" (Dorothee Sölle). In diesem Bemühen um eine neue Sprache, die den Menschen in seinem Inneren anrührt, treffen sich die Sprachbemühungen von Dichtung und dem Sprechen von Gott.